Zwei Gehirne
Viele der Dinge, über die wir bisher gesprochen haben, klingen für dich eventuell „logisch“. Du verstehst sie und auch, warum ich denke, dass sie gut für dich sind. „Verstehen“ und im täglichen Leben konstant umsetzen sind allerdings zwei ganz verschiedene paar Schuhe. Das liegt an unserem Gehirn und dessen unterschiedlichen Bereichen. Jeder von uns hat zwei unterschiedliche Systeme mit sehr verschiedenen Funktionsweisen im Kopf, eines für Logik und eines für Emotionen, vereinfacht gesagt. Und die beiden sind oft nicht die besten Freunde – zusammenarbeiten schaffen sie meist nicht so gut. Und du musst das Dilemma dann ausbaden und bist das Opfer des Streits.

Ich rede hier nicht von linker und rechter Gehirnhälfte, sondern evolutionär betrachtet alten und neuen Systemen. Das „alte Gehirn“ – das Reptiliengehirn und das limbische System – hat sich über Millionen Jahre hinweg mit uns Menschen entwickelt und ist unter anderem zuständig für rohe, instinktive Emotionen. Für unsere Zwecke nennen wir das ab jetzt den „emotionalen Geist“.
Das „neue Gehirn“ ist erst ein paar hunderttausend Jahre alt und ermöglicht es uns Menschen, logisch zu denken. Es ist zuständig für kalte, berechnende Rationalität, für Planung und Durchführung von Plänen. Für dieses Kapitel bezeichne ich es ab jetzt als „rationalen Geist“. Zwischen diesen beiden Systemen gibt es nicht so viele neuronale Netzwerke, es fließen die Informationen lange nicht so gut zwischen ihnen hin und her, wie sie es innerhalb der Systeme tun.
Welchen Einfluss das auf dich hat? Wir Menschen tendieren dazu, entweder extrem rational oder extrem emotional zu denken und zu handeln. Der rationale oder der emotionale Geist übernehmen das Ruder und schalten den jeweils anderen aus, sozusagen. Für eine gewisse Zeit haben die Gefühle das alleinige sagen, du lässt dich komplett von ihnen steuern. Das führt zu Unsicherheit und Zweifel, weil es ein ständiges Auf und Ab mit sich bringt. Die Impulsivität sorgt für Probleme in dir und auch in deinen Beziehungen zu deinen Mitmenschen. Deshalb entscheidest du dich, den emotionalen Geist zu unterdrücken und alles sehr bedacht anzugehen. Dabei fühlst du dich zuerst sehr geerdet und ruhig. Schnell führt dieser roboterartige Ansatz aber dazu, dass du sehr langsam handelst und ewig nach der besten Lösung suchst. Du bist irgendwie nicht mehr mit deinem wahren Selbst verbunden. Das führt zu negativen Gefühlen, und schon löst der emotionale Geist den rationalen wieder ab auf dem Fahrersitz.

Was wir erreichen wollen, um das ewige Hin und Her abzustellen und uns nicht so sehr in den beiden Extremen zu verfangen, nennen wir den „weisen Geist“. Das ist die Mitte – wenn Emotionen und Rationalität gleichberechtigt nebeneinander agieren. Wenn der weise Geist das Ruder übernimmt, fühlen wir uns vollständig. Wir erleben Aha-Momente und wissen gar nicht so genau, warum gerade alles Sinn macht und gut funktioniert. Wir können unsere Emotionen erleben und gleichzeitig beobachten, ohne uns von Ihnen treiben zu lassen und nutzen unsere Intuition, um unsere rationalen Überlegungen zu unterstützen. Über ähnliche Ideen haben wir ja schon gesprochen, und dass du dein Gehirn umbauen kannst – Stichwort Neuroplastizität – ist dir auch klar. Also, lass uns jetzt Strategien ansehen, wie wir den weisen Geist in dir stärken können.
Zunächst solltest du lernen, zu erkennen, wann einer von den beiden ungewollten Geistern das Ruder übernimmt. Den emotionalen Geist erkennst du an folgenden Zeichen:
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Wenn sich die eigenen Gedanken und Verhaltensweisen anfühlen wie auf Autopilot, impulsiv und ohne bewusste Anstrengung; wenn du etwas automatisch tust.
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Wenn du Fakten und Daten interpretierst, sodass sie in dein Weltbild und zu deinen Zielen passen, und die Gegenargumente vernachlässigst.
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Wenn du fühlst und denkst, deine persönliche subjektive Meinung sei allumfassende Wahrheit und du wütend wirst, wenn jemand anderer Meinung ist.
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Wenn du fühlst, dass deine innere Einstellung und deine äußeren Handlungen schwer zu beeinflussen und zu steuern sind.
Stellst du folgende Dinge fest, sitzt der rationale Geist am Steuer:
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Wenn sich deine eigenen Gedanken und Gefühle anfühlen, als ob du alles mit extremer Vorsicht tust, die Ergebnisse durchdenkst und nicht entscheidest, bevor du wirklich alle Informationen zusammen hast.
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Wenn du dich nur an die Fakten hältst, alles ignorierst, was nicht faktenbasiert ist und deine Intuition und Gefühle vernachlässigst.
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Wenn du deine Entscheidungen nur basierend auf beobachtbaren, externen Informationen triffst und alle Signale von innen ignorierst.
Je nachdem, welches der beiden Systeme das sagen hat, gibt es unterschiedliche Lösungsansätze.
Lenke dich ab von den Emotionen. Dies ist ein kurzfristiger Ansatz, um nicht zu tief in etwas Negatives hineingezogen zu werden. Als Ablenkung eignen sich verschiedene Dinge.
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Eine minimal körperliche Aktivität, wie spazieren gehen oder Liegestützen machen.
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Jemandem helfen, auch in absoluten Kleinigkeiten, wie eine Tür auf halten oder jemandem ein Lächeln schenken.
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Die Situation vergleichen mit einer anderen Situation, in der du dich genauso gefühlt hast und überlegen, ob du jetzt besser oder schlechter damit klar kommst.
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Gegenteilige Emotionen auslösen, zum Beispiel in dem etwas lustiges anschaust, wenn du traurig bist.
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Neue Ideen oder Ansätze in deine Gedanken bringen, durch Gespräche, Bücher oder Videos und darüber logisch nachdenken.
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Erschreckende, aber harmlose Empfindungen auslösen durch Kälte, Wärme, Schmerz oder ekelhafte Gerüche.

Rationalisiere deine Emotionen. Dadurch konfrontierst du dich mit ihnen und lernst besser, dich nicht von ihnen beherrschen zu lassen. Nutze dafür diese drei Schritte:
1. Beschreiben: Was ist der Auslöser, ist es ein Gedanke oder ein externer Impuls? Wie interpretiere ich das Gefühl (meistens ist es eine Bewertung – „Ich mag das nicht“)? Wie nenne ich das Gefühl – Stolz, Schuld, Wut, Ekel, Bedauern…?
2. Funktion erkennen: Was löst die Emotion aus? Ein körperliches Verhalten (Anspannung, Rötung der Haut, „heißer Kopf“, Zähneknirschen…) oder verbale / nonverbale Kommunikation (Augen zusammenkneifen, Augenbrauen heben, Arme verschränken…)?
3. Neu interpretieren: Du kennst den Auslöser, das Gefühl und die Funktion, also Frage dich, was dir dein Reptiliengehirn sagen möchte, statt blind darauf zu reagieren.
Oder erkennst du den rationalen Geist in dir? Dann versuche folgendes:
Erlaube dir, auf deine Intuition zu hören, wenn nicht alle Fakten klar sind und es keine 100% Sicherheit gibt. Nutze dafür folgende Schritte (dies wirkt am Anfang vielleicht anstrengend, aber wenn du es häufiger einsetzt, wird es immer einfacher):
1. Beobachte die Situation und konzentriere dich auf einen ganz bestimmten Aspekt, zu dem du eine Entscheidung treffen sollst.
2. Notiere die folgenden Kategorien: Wie viele Daten stehen mir zur Verfügung (0=keine, 100=alle)? Wie viele Parameter muss ich betrachten (0=nur einen, 100= sehr viele)? Welches Level von Voraussagbarkeit entsteht dadurch für das Ergebnis (0=absolut nicht vorhersagbar, 100=absolute Sicherheit)? Wie komplex ist die Entscheidung (0=nicht komplex, 100=extrem komplex)?
3. Wenn viele du viele Daten hast (>70) und wenige Parameter nötig sind (<30), nutze reine Logik. Wenn du wenig Daten hast (<30) und viele Parameter nötig sind (>70), höre auf deine Intuition und vermeide ein übermäßiges Analysieren.


Lerne durch die „drei Regeln“, deine Intuition zu schärfen, wenn du vor einer Entscheidung stehst:
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Die „Such-Regel“: Liste alle Alternativen auf.
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Die „Stop-Regel“: Lege das wichtigste Attribut für die Entscheidung fest und bewerte die Alternativen danach. Die restlichen Attribute ignorierst du.
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Die „Entscheidungs-Regel“: Wenn es kein besseres Attribut für die Entscheidung gibt, dann hast du hiermit deine Entscheidung getroffen.
Einen letzten Tipp habe ich noch (Geklaut! Das ganze Kapitel übrigens...), egal, welcher Geist gerade den Hut auf hat: Lerne, längerfristig zu denken. Der emotionale und der rationale Geist reagieren beide gerne bezogen auf einen kurzfristigen Zeithorizont, auch wenn das, was kurzfristig gut ist, langfristig schlecht für uns sein kann. Wie die Tafel Schokolade, die dich so anlächelt. Oder die Bewertung deines Geschäfts rein basierend auf Quartalszahlen. Auch viele unserer psychologisch basierten Probleme wie Süchte, Zwänge, schlechte Gewohnheiten oder Ängste sind auf einen kurzfristigen Zeithorizont bezogen. Nutze deshalb die folgenden drei kleinen Übungen, um dir eine längerfristige Sichtweise zu eigen zu machen:
1. Stelle dir ab und an Fragen, die einen längeren Zeithorizont umfassen. Wie lange würde es dauern, eine Sprache zu lernen? Oder deine Wohnung zu renovieren? Oder dir einen Bodybuilder-Körper anzutrainieren?
2. Denke an Dinge, die schon länger zurückliegen und etwas Nachdenken erfordern: Wann war ich zuletzt beim Frisör? Vor wie vielen Jahren habe ich den Führerschein gemacht? Wann habe ich das erste Mal meine Lieblingsband gehört?
3. Überlege, wie lange die gebraucht hast, etwas zu lernen. Fahrradfahren zum Beispiel. Oder dein Instrument. Oder einen Spagat. Was auch immer dir einfällt.